Was die Auslegung des Artikel 14 GG von Léon Duguit lernen könnte
Von Benjamin Davy
Das Bodeneigentum natürlicher Personen kann einen Freiheitsspielraum im vermögensrechtlichen Bereich verbürgen (zuletzt BVerfGE 143 [2016] 246 [341]). Mehr noch, der verfassungsrechtlich geschützte, ausschließliche Zugriff natürlicher Personen auf einzelne Grundstücke kann wesentlich zur Achtung und zum Schutz der Würde der Eigentümer*innen beitragen (Artikel 1 Abs. 1 GG). Insofern ist Bodeneigentum als soziale Funktion unbestritten. Höchst umstritten ist hingegen die immobilienwirtschaftliche Mimikry: Indem kapitalgesellschaftliche Großinvestoren – häufig stillschweigend – mit menschlichen Kleineigentümer*innen gleichsetzt werden, wird eine »Scheinwelt« geschaffen. Die Theorie des Léon Duguit stellt diese Scheinwelt in Frage.
Im August und September des Jahres 1911, hielt Léon Duguit, ein Professor für Verfassungsrecht an der Universität Bordeaux, mehrere Vorträge in Buenos Aires. Duguit veröffentlichte die Vorträge unter dem Titel Les transformations générales du droit privé depuis le Code Napoléon (Duguit, 1912/1920). Einige Texte wurden in englischer Sprache veröffentlicht (Duguit, 1918 und 1923), eine deutsche Übersetzung existiert nicht.
Duguit vertrat eine Eigentumstheorie, die im Gegensatz zum vorherrschenden zivilrechtlichen Paradigma stand. Eigentum sei kein Recht, lehrte er, Eigentum sei eine soziale Funktion. Die Idee des Eigentums als sozialer Funktion ist von der zum Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Soziologie geprägt. Insbesondere stützte sich Duguit auf Auguste Comte und Emile Durkheim.
Durkheim erklärte die moderne Gesellschaft mit der Verbreitung organischer Solidarität. Mechanische Solidarität, wie sie in primitiven Austauschbeziehungen geübt werde, erlaube keine ausdifferenzierte Arbeitsteilung. Hierfür wäre organische Solidarität nötig, die auf rationaler Zusammenarbeit, geteilten Werten und wechselseitigem Vertrauen beruhe. Für Duguit ist organische Solidarität eine Tatsache, nicht bloß wünschenswert. Unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Arbeitsteilung wird Solidarität tragendes Prinzip des Rechtssystems: »Jeder hat in der vielschichtigen Arbeitsgemeinschaft, die den sozialen Körper hervorbringt, eine bestimmte Rolle zu spielen. Diese Rolle oder Funktion wird durch die Stellung festgelegt, die jedem einzelnen oder jeder Gruppe in der Gesellschaft zukommt. Der einzelne besitzt keine subjektiven Rechte, ja er kann sie nicht besitzen, denn ein Recht ist bloß ein abstraktes Gebilde ohne Bezug zur Wirklichkeit. Weil jeder einzelne jedoch Teil der Gesellschaft ist, trifft ihn – und das ist eine Tatsache – die Pflicht zur Erfüllung bestimmter sozialer Funktionen« (Duguit, 1918: 76 [Übersetzung BD]).
Die »Transformation« im Titel der Buenos-Aires-Vorträge meinte die Umwandlung eines individualistischen Rechtssystems in ein Rechtssystem, das durch soziale Funktionen bestimmt wird. Das betrifft Grundfreiheiten und Verträge ebenso wie schuldrechtliche Haftung oder das Eigentum. Duguit erklärte zum kapitalistischen Eigentum: »Jeder einzelne hat gegenüber der Gesellschaft die Pflicht zur Erfüllung einer sozialen Funktion, die durch seine gesellschaftliche Stellung bestimmt wird. Wer Reichtümer besitzt vermag Leistungen zu erbringen, die weniger wohlhabende Individuen nicht erbringen können. … Aus sozialen Gründen ist der Reiche daher verpflichtet, solche Leistungen zu erbringen, und die Gesellschaft wird ihn nur und nur in dem Umfang schützen, indem der Reiche seine soziale Funktion erfüllt« (Duguit, 1918: 133–134; [Übersetzung BD])
Duguits Eigentumstheorie beeinflußte vor allem die Verfassungsrechtsentwicklung in Lateinamerika. Beispiele sind Artikel 24 Abs. 2 der Verfassung von Chile (1980), Titel II, Kapitel I, Artikel 5 der Verfassung von Brasilien (1988) oder Artikel 58 Abs. 2 der Verfassung von Kolumbien (1991). Duguit wurde als Faschist bezeichnet, gleichwohl verweist Artikel 42 der (anti-faschistischen) Verfassung von Italien (1947) auf die soziale Funktion des Eigentums. Duguit wurde als Kommunist bezeichnet, gleichwohl gilt er in der sozialistischen Staatsrechtslehre als bürgerlicher Revanchist. Duguit wurde, wie viele kluge Menschen, mißverstanden oder verschwiegen.
Ein Einfluß der Eigentumstheorie von Léon Duguit auf Artikel 153 Abs. 3 oder Artikel 155 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (1919) oder Artikel 14 Abs. 2 GG (1949) ist nicht nachweisbar. Gleichwohl unterstreicht die aufgrund des Artikel 14 GG in Deutschland entwickelte Eigentumsordnung das Eigentum als soziale Funktion. Die Betonung ist theoretisch unzureichend aufgearbeitet. Zum einen orientiert sich die Staatsrechtslehre überwiegend an der (zwar nicht theoriearmen, aber oft theoretisch unzureichend reflektierenden) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zum anderen fehlt eine Rezeption der Theorie des Eigentums als soziale Funktion (von einer Schrift des ehemaligen Verfassungsrichters und Professors Dieter Grimm abgesehen: »Solidarität als Rechtsprinzip. Die Rechts‑ und Staatslehre Léon Duguits und ihrer Zeit« [1973]). Anhand eines Beispiels, nämlich der bodenpolitischen Auseinandersetzung um bezahlbaren Wohnraum, kann die Aktualität der Eigentumstheorie Duguits veranschaulicht werden.
Das »Gespenst des unbezahlbaren Wohnraums« das in Deutschland seit einigen Jahren in boden‑ und wohnungspolitischen Diskussionen umgeht, verdankt seine Existenz einer falschen Sicht auf Bodeneigentum als sozialer Funktion. In vielen Städten und Regionen ist ausreichend Wohnraum vorhanden. Allerdings ist Wohnraum vor allem für Rentner*innen, ALG II-Bezieher*innen und Studierende nicht bezahlbar – weil diese Haushalte ein zu geringes Einkommen haben. Zudem wurde Wohnraum für eher wohlhabende Haushalte geschaffen wurde. Aus der Sicht von Duguit könnte man sagen: Der deutsche Immobilienbestand ist teilweise sozial dysfunktional.
In der Präambel der Erklärung »Gemeinsame Wohnraumoffensive von Bund, Ländern und Kommunen« (September 2018) stellt die deutsche Bundesregierung fest, es gäbe »viele Menschen … mit geringem und mittlerem Einkommen« und »deshalb« bräuchte man »mehr Wohnraum«. Die Einschätzung ist falsch. Es gibt keine Beispiele dafür, daß die Schaffung zusätzlichen Wohnraums an attraktiven Standorten mit guten Arbeitsmarkt‑ und Wirtschaftsdaten langfristig zu sinkenden Wohnungsmieten geführt hätte. Vielmehr erhöhen Stadterweiterungen – mehr Wohnraum – unter solchen Bedingungen das arbeitslose Einkommen der Bodeneigentümer (»Bodenrente«).
Durch die »Gemeinsame Wohnraumoffensive« wurden die Bodeneigentümer, die Wohngrundstücke verkaufen oder Wohnraum vermieten, kaum angesprochen. Auch in den Empfehlungen der sogenannten Baulandkommission (Juli 2019) werden die Bodeneigentümer kaum für die verheißene »nachhaltige Baulandmobilisierung und Bodenpolitik« in die Pflicht genommen. Zwar empfiehlt die Baulandkommission eine »stärkere Gemeinwohlorientierung des Eigentums«, verbindet dieses Ziel aber sogleich mit der Forderung: »Der bestehende Eigentumsschutz soll dabei gewahrt werden«; und: »Verschärfungen der Eingriffsmöglichkeiten der Kommunen in Eigentumsrechte … werden … nicht verfolgt« (S. 7).
Die Ankündigungen der »Wohnraumoffensive« des Jahres 2018 und die Empfehlungen der Baulandkommission des Jahres 2019 spiegeln die Unfähigkeit wider, Bodennutzungen angemessen zu regulieren. Will die Baulandkommission die Eigentümer vor den Eingriffen einer willkürlichen und vorrechtsstaatlichen Staatsgewalt in Schutz nehmen, die unberechenbar und rücksichtslos das mühsam ersparte Kleineigentum konfisziert? Dies wäre aus zwei Gründen falsch.
Erstens: Im Anwendungsbereich des Artikel 14 des Grundgesetzes (GG) wurde seit 1949 konsequent eine zivil‑ und öffentlich-rechtliche Eigentumsordnung entwickelt, die durch den sorgsamen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen geprägt ist. Wiederholt haben die zuständigen Gesetzgeber durch diesen Ausgleich die organische Solidarität bewahrt und hat das Bundesverfassungsgericht Eigentum als soziale Funktion behandelt. Beispiele sind die Entscheidungen zur Naßauskiesung (BVerfGE 58 [1981] 300), zur Festsetzung von Jagdbezirken auf privaten Waldgrundstücken (BVerfG, 13. 12. 2006, 1 BvR 1089 2085/05) oder zur Versammlungsfreiheit im Frankfurter Flughafen (BVerfGE 128 [2011] 226). Zur Herstellung organischer Solidarität gehören auch staatliche Leistungen, durch die das Bodeneigentum der Privaten erst brauchbar gemacht und in Wert gesetzt wird. Im internationalen Vergleich ist die deutsche Eigentumsordnung ein Beispiel für die ausgleichende Verbindung von ausschließenden und gemeinschaftlichen Grundstücksnutzungen. Paradigmatisch läßt sich dies am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Privatgrundstücken und öffentlichen Verkehrsflächen veranschaulichen.
Zweitens: Im politischen Streit um bezahlbaren Wohnraum – und erstaunlich unbeachtet von der Wohnraumoffensive und der Baulandkommission – stehen institutionelle Eigentümer großer Mietwohnungsbestände im Vordergrund. Gerade in Berlin brachte das Geschäftsgebaren der börsennotierten Deutsche Wohnen SE viele ihrer Mieter*innen auf die Idee, nach einer »Enteignung« zu rufen. Selten wurde erwähnt, daß Deutsche Wohnen ihren Berliner Bestand aufgrund der Privatisierungsentscheidungen Berlins erlangt hatte (vgl. Senatsverwaltung für Finanzen [2006] Fakten und Legenden zum Zusammenhang zwischen Wohnungsmarkt und Marktanteil öffentlicher Wohnungsunternehmen). Der Sachverhalt zeigt einerseits wie problematisch die Anwendung des Artikel 14 GG auf juristische Personen des Privatrechts ist (BVerfGE 143 [2016] 246), andererseits wie unverläßlich die öffentliche Hand als Wohnungseigentümerin sein kann.
Vor dem Hintergrund der Eigentumstheorie von Léon Duguit wäre im Lichte der aktuellen Diskussion über bezahlbaren Wohnraum folgendes zu beachten:
- Der Gesetzgeber hat die Aufgabe, die soziale Funktion der Wohnungsbestände festzusetzen und zu regulieren, die im Eigentum von Kapitalgesellschaften stehen (Artikel 14 Abs. 1, Satz 2 GG).
- Diese Kapitalgesellschaften haben an ihren Wohnungsbeständen kein verfassungsrechtlich geschütztes Recht (Nichtanwendbarkeit des Artikel 19 Abs. 3 GG); ihr »Eigentum« ist lediglich eine soziale Funktion.
- Die Festsetzung und Ausgestaltung der sozialen Funktion der Wohnungsbestände von Kapitalgesellschaften hat sich am Prinzip organischer Solidarität zu orientieren (Artikel 14 Abs. 2 GG).
- Eine Enteignung (Artikel 14 Abs. 3 GG) oder Vergesellschaftung (Artikel 15 GG) der Wohnungsbestände von Kapitalgesellschaften ist nicht notwendig und auch wegen der damit verbundenen Entschädigungspflicht aus der Sicht der Eigentumstheorie von Duguit nicht empfehlenswert.